Der „Rote Tänzer" Jean Weidt hat auf meine berufliche Entwicklung starken Einfluss gehabt. Seine unerbittliche Disziplin, seine Forderung nach absoluter Hingabe, seine abgrundtiefe Verachtung aller Bequemlichkeit, dem Kitsch, der Verlogenheit und Unehrlichkeit gegenüber hat mich in meiner Jugend entscheidend geprägt. Ich kam mit 16 Jahren zu ihm als klavierspielender Oberschüler. Er war Choreograph für die Festprogramme der „Ostseewochen der DDR", die in Rostock mit großem staatlichen Einsatz durchgeführt wurden. Die Tänzerinnen und Tänzer wurden aus Laientanzgruppen zusammengestellt. Ich war zwar unerfahren (hatte immer mal wieder bei Kindertanzgruppen gespielt), aber voller Begierde, die musikalische Begleitung bestmöglich zu gestalten. Bei meinem Klavierstudium in Berlin war ich Pianist der „Gruppe Junger Tänzer", die Jean Weidt trotz heftiger Anfeindungen der staatlichen Kulturpolitik, aber auch bei uneigennütziger Unterstützung einiger Berliner Bühnen (Komische Oper, Deutsches Theater) am Leben erhielt. Für einen Studenten war das Honorar zwar erfreulich, entsprach aber in keiner Weise den geforderten Leistungen, aber die Finanzierung der „Gruppe Junger Tänzer „war so mager, Jean Weidt hat sich von mir manchmal Geld geliehen, um nötigste Ausgaben zu begleichen. Jean Weidt aber ließ mich teilhaben an der Einstudierung seiner Ballette „Die Zelle“, „Ein Indianermärchen“ u.a. Das war für mich Lohn genug. Seiner Strenge habe ich mich immer bereitwillig hingegeben, aber als er mir gegenüber nachsichtig wurde (das Studium erforderte ebenso unerbittlichen Einsatz), habe ich meine Tätigkeit als Pianist bei der „Gruppe Junger Tänzer" beendet.
Aus seiner Zeit im Exil berichtete er kaum, mir ist nur in Erinnerung, dass er manchmal von Begegnungen mit Jean-Louis Barrault und Marcel Marceau erzählte. Doch das Exil hat ihn nicht nur künstlerisch geprägt, sondern hat ihn auch für immer Genügsamkeit „gelehrt“. So sagt er zum Beispiel bei einem Empfang in der sowjetischen Botschaft - das Speisenangebot war außerordentlich delikat - zu mir: „Nu iss Dich mal richtig satt, brauchst ja nicht bezahlen."
Zu den Personen, die mich nachhaltig und entscheidend geprägt haben, gehört – neben meinem Klavierlehrer, Prof. Heinz Zimbehl und Palucca und nicht an letzter Stelle – Jean Weidt.
Peter Jarchow
Jean Weidt (1904-1988) in Hamburg geboren; Unterricht bei Sigurd Leeder, eigene Tanzabende, Gründung seiner ersten Gruppe; Übersiedlung nach Berlin, Gründung seiner zweiten Gruppe „Die Roten Tänzer"; 1931 Eintritt in die KPD; 1933 Emigration nach London, dann Paris; 1935 Ausweisung aus Frankreich wegen KP-Aktivitäten, Ausreise erst nach Moskau, dann nach Prag; 1937 Rückkehr nach Paris, Gründung der Ballet Weidt; 1939 aus Internierung in Algier entlassen, dort Auftritte mit neuer Gruppe; 1946 Rückkehr nach Paris, Gründung der Ballets des Arts; 1948 Rückkehr nach Ostberlin.
(siehe in: Marion Reisch (Hg.): Auf der großen Straße. Jean Weidts Erinnerungen, Berlin 1984; tanzdrama 5, S. 14f.)
Quelle: tanzdrama 42