Menü

In finsteren Zeiten

Vielleicht ist Bertolt Brecht ein unerwarteter Zeitgenosse im Zusammenhang mit denjenigen, die hier als »Unsichtbare« wieder erkennbar werden sollen, aber er hat nicht nur an dem Ballett ›Die sieben Todsünden der Kleinbürger‹ maßgeblich mitgewirkt, das 1933 in Paris uraufgeführt wurde, als er bereits auf der Suche nach Arbeitsmöglichkeiten außerhalb Deutschlands war. Nein, er hat auch mit seiner Kunst, wie nicht wenige andere, die Erfahrung der Flucht, der Emigration, des Exils zum Ausdruck gebracht.
Bertolt Brecht beginnt sein Gedicht ›An die Nachgeborenen‹ aus eben diesen Exil-Jahren mit den Worten: »Ja, wir leben in finsteren Zeiten«. Brechts Zeilen haben Hannah Ahrendt angeregt, über Menschen in finsteren Zeiten, die es immer gegeben hat, zu schreiben. Von beiden mitgedacht ist, dass in der Finsternis vieles und Viele eben nicht erkennbar sind. »Denn die einen sind im Dunkeln Und die andern sind im Licht. Und man sieht nur die im Lichte Die im Dunkeln sieht man nicht.« – heißt es so zutreffend im Schlusschoral der ›Dreigroschenoper‹. Die Inszenierung ›Die Unsichtbaren‹ erinnert an Menschen aus dem Bereich Tanz in den finsteren Zeiten des Nationalsozialismus.

Zur Diskussion um das Thema

1993, fast ein halbes Jahrhundert nach Beendigung der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft in Europa, schrieb die Wigman-Biografin Hedwig Müller: »Der Tanz im Nationalsozialismus ist das am wenigsten bearbeitete Gebiet der deutschen Tanzgeschichte. (…) Die Frage, inwieweit die Tänzerinnen und Tänzer zur Installierung des Nationalsozialismus 1933 und zu seiner Politik beigetragen haben, ist bisher noch nicht beantwortet worden.«
Nur drei Jahre später meinen Lilian Karina und Marion Kant die Antwort gefunden zu haben: »Laban, Wigman, Palucca, Kreutzberg und viele andere hatten teil an der Gleichschaltung und Arisierung des Tanzes in Deutschland und stützten auf ihre Weise Goebbels Kunstpolitik.«
Diese Behauptung wird bis heute sehr widersprüchlich diskutiert. Forschungen zu dieser Zeit und zu den Handelnden sind aufgrund der Dokumentenlage eher möglich als zu den Ausgestoßenen – eine grundsätzliche Ironie von Geschichte und Geschichtsschreibung. Würde man über die Vergessenen schreiben, wären sie es nicht mehr.
Bekannt ist heute die umfassende Unterstützung der Tanz-Moderne, der Revue, der Show und des Theatertanzes durch die nationalsozialistische Kulturpolitik. Aber – und das ist das wirklich am wenigsten bearbeitete Gebiet der deutschen Tanzgeschichte – all die Förderung fand bei gleichzeitiger Ausgrenzung und Verfolgung von Einzelnen statt, die in der Summe Viele waren.

Zu Zahlen, Namen und Gesetzen

1933 gab es in Deutschland laut offizieller Zählung 5122 »Tanzschaffende«, damit waren die praktisch Tätigen gemeint. Wie viele von ihnen waren von Verfolgung und Ausgrenzung, Inhaftierung und Internierung, Deportation und Mord betroffen? Wir wissen es nicht. Nur die »Stationen« des Terrors sind bekannt. Ein erster Schritt war bekanntlich das Inkrafttreten des Gesetzes zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums am 7. April 1933. Demnach konnten alle Menschen »nicht arischer Abstammung« und die, »die nach ihrer bisherigen politischen Betätigung nicht die Gewähr dafür bieten, dass sie jederzeit rückhaltlos für den nationalen Staat eintreten«, entlassen werden. In der Berliner Staatsoper z.B. sollen dies knapp fünf Prozent des Balletts gewesen sein. Rückblickend anonym auf »die Nazis« als Handelnde zu verweisen, ist wenig sinnvoll, waren es doch stets die Leitenden, die die Gesetze um- und durchsetzten. Die Befolgung dieser »Gleichschaltung« wurde ministeriell überwacht. Verantwortlich war Hans Hinkel, der mit der »Entjudung des deutschen Kulturlebens« beauftragt worden war; treffend charakterisiert als »Bürokrat des Verbrechens«. Hannah Ahrendt schrieb: »Bürokratie ist die Herrschaft der Niemande und aus eben diesem Grund vielleicht die am wenigsten menschliche und grausamste Herrschaftsform.«
Würde man rein hypothetisch diese fünf Prozent zur oben genannten absoluten Zahl aller »Tanzschaffenden« ins Verhältnis setzen, käme man auf ca. 250 von Entlassung Betroffene allein in Deutschland. Und dabei sind noch nicht die Menschen mitgedacht, die über Tanz geschrieben haben wie etwa Josef Lewitan, Arthur Michel oder Curt Sachs, die emigrieren mussten. Ebenso die Menschen nicht, die für Tanz komponiert haben wie der emigrierte Fritz Cohen. Auch ein Impresario wie René Blum, der 1942 in Auschwitz ermordet wurde, ist nicht dabei. Ebenso wenig die vielen, vielfach jüdischen Tanzfotograf*innen wie die ausgegrenzte Genia Jonas aus Dresden oder die emigrierte Carry Hess aus Frankfurt am Main und ihre in Auschwitz 1943 ermordete Schwester Nini. Bedenkt man darüber hinaus, dass durch die Eroberungskriege die Bevölkerung anderer europäischer Staaten plötzlich deutscher Gesetzgebung unterworfen wurde, ist von einer europaweit weit höheren Zahl an Betroffenen auszugehen. Eine nächste Verfolgungswelle setzte 1935 mit der Verschärfung des § 175 ein. Die ebenfalls im Jahr 1935 erlassenen »Nürnberger Gesetze« verursachten ebenso eine Welle von Betroffenen.
Von vielen Prominenten ist ihr Weg oder ihr Schicksal heute bekannt: von Valeska Gert, Kurt Jooss, Lotte Goslar, Jean Weidt und anderen, die emigrieren mussten und konnten. Auch von Oda Schottmüller wissen wir, dass sie 1943 in Berlin-Plötzensee, und von Tatjana Barbakoff, dass sie 1944 in Auschwitz ermordet wurde. Doch vom überwiegenden Teil dieser Menschen ist uns nichts oder wenig bekannt. Es liegt derzeit keine einigermaßen verlässliche Zahl derjenigen vor, die von den o.g. »Gesetzen« betroffen waren.

Eine These

Es könnte sein, dass bei den Tänzer*innen der relative Anteil an zum Beispiel Emigrant*innen viel höher ist als bei anderen Künstler*innen, d.h. dass diese Gruppe aus ganz unterschiedlichen zwingenden und besonderen Gründen relativ häufig von Emigration betroffen war. Möglicherweise müssen wir davon ausgehen, dass wegen ihrer Religionszugehörigkeit, wegen ihrer sexuellen Orientierung, wegen ihrer politischen Einstellung oder wegen ihrer nicht genehmen künstlerischen Arbeit in Europa eventuell Tausende gefährdet waren und daher emigrieren mussten bzw. verhaftet und ermordet wurden? Im Gegensatz zu anderen Künstler*innen waren Tanzende oft jünger, ungebundener und mit dem Wissen, dass Tanzen weltweit möglich ist, vielleicht auch eher bereit, den Schritt in die Emigration zu wagen. Für die Forschungen erheben sich daher hohe Ansprüche. Und dabei gilt es zu beachten: jede Biografie ist individuell. Man konnte auch betroffen und involviert sein. Und durch die Eroberungspolitik des nationalsozialistischen Deutschlands hat das Nachdenken über diesen historischen Prozess eine europäische Dimension, durch die weltweiten Exile ist es von internationalem Ausmaß.

Zur »Suche in einem Scherbenhaufen« (Frithjof Trapp)

Für das Auffinden von »Unsichtbaren« gibt es keine allgemeingültige Methode. So ist die Suche ein sehr uneinheitlicher Vorgang. Es sind Informationen notwendig über Menschen, von denen man mitunter nicht einmal die Namen kennt. Die Informationen sind überwiegend in Dokumenten enthalten. Manche sind öffentlich. Es gibt natürlich inzwischen Publikationen in Lexika, Aufsätze zum Thema in Tanz-Journalen und Monografien zu einzelnen Betroffenen. Das Internet ist – und nicht nur mit seinem Wikipedia-Lexikon – eine große Hilfe. Hinweise finden sich in Archiven. Auch die Auflistung der bundesweit verlegten Stolpersteine hilft bei der Rekonstruktion. Im Gedenkbuch des Bundesarchivs sind Deportierte auffindbar, aber längst nicht alle. Dort sind Name und das Geburtsdatum der Deportierten, Ort und Schicksal dokumentiert, aber eine Berufsbezeichnung wird nicht angegeben. Es gibt auch Wissenschaftler*innen, die sich konkret und ausschließlich mit diesem Thema befassen oder im Rahmen ihrer historischen Forschung auch auf dieses Thema gestoßen sind. Manches ist bereits veröffentlicht und kann so genutzt werden. Zu bedenken ist ferner, dass Emigration und Exil, Flucht und Ausgrenzung überwiegend auch in andere Sprach-Räume geschah. Die Suche gestaltet sich daher nach dem Domino-Prinzip: ein Stück führt zum nächsten und das wiederum zum nächsten. Jeder Fund ist wichtig, aber nicht jeder Fund ist richtig. Vollständigkeit und Wahrheit der Angaben bleiben ein hohes Ziel.

Zur Sprache

Der Begriff Emigration ist nicht der einzig richtige und gültige. Von Flucht und Ausgrenzung ist ebenso zu sprechen wie von Verbannung und Exil. Denn tatsächlich verlangte das »Dritte Reich« von denen, die auswanderten, eine »Reichsfluchtsteuer«. Und diejenigen, die gingen, die gehen mussten, hatten dazu Grenzen zu überschreiten und wurden also ausgegrenzt. Für den Vorgang, jemanden ins Exil zu zwingen, gibt es das Verb exilieren. Es wird allerdings kaum verwendet. In vielen Texten und Gesprächen werden all diese Begriffe miteinander in Verbindung gebracht. Die Forschung spricht heute von Exil-Literatur. Die Betroffenen erinnern sich meist an ihre Emigration, differenzierter an die unfreiwillige Emigration und ihre Zeit im Exil. Und auch wenn wir heute manches besser wissen, wollen wir nicht klüger sein als diejenigen, die ihr Schicksal erlebt und mit ihren Worten erzählt und beschrieben haben. Deshalb wird der Begriff »emigriert« auch an der »Memorial Wall« benutzt, wissend um seine Unvollständigkeit und Missverständlichkeit.

Zur Inszenierung

John Neumeier widmet seine Inszenierung ›Die Unsichtbaren‹ für das Bundesjugendballett diesem wichtigen Thema. Er entwirft eine künstlerisch-emotionale Sicht auf die Tänzerinnen und Tänzer in dieser Zeit. Um ins Dunkel der Unsichtbaren zu gelangen, ist es notwendig, sich erst durch zum Teil gleißendes Licht zu begeben, das die Stars von damals ausstrahlen. Geschichte ist nie einseitig, selten genug eindeutig. Diese Inszenierung ist ein anderer, künstlerischer Blick, ein weiterer »Gedenk-Stein«, der die noch ausstehende umfassende Erforschung und Veröffentlichung dieses Kapitels der vom nationalsozialistischen Deutschland verursachten internationalen Tanzgeschichte anregen und bereichern kann. Eine Ausstellung wird an einige der von der nationalsozialistischen Politik Betroffenen erinnern.
Bertolt Brecht schrieb, dass sie nicht Emigranten, sondern Vertriebene und Verbannte seien. Und man muss hier leider ergänzen: auch Verdrängte und Vergessene. Aus diesem Verdrängen und Vergessen möchten wir die Betroffenen befreien.

Ralf Stabel