Elfriede Alice Kuhr (1902–1989), so ihr bürgerlicher Name, stammte aus Schneidemühl (heute Pila, Polen) und schloss 1920 dort ihre Ausbildung zur Säuglings- und Kinderschwester ab. Ihr Künstlername bedeutet „Eine von ihnen“. Dieser war ihr von einer Roma-Familie gegeben worden, für deren Interessen sie sich als Schülerin eingesetzt hatte.1 Nach dem Krieg verzichtete sie auf einen festen Wohnsitz und ging auf Wanderschaft. „Ich hatte eine unendliche Sehnsucht danach, ganz frei zu sein.“2 In Berlin begann sie auf Wunsch der Mutter mit einer Gesangsausbildung. Zur gleichen Zeit nahm sie Tanzunterricht unter anderem bei Berthe Trümpy. Sie wurde vom renommierten Modeschöpfer und Kunstprofessor Otto Haas-Heye für seine eigene Ballettgruppe engagiert, mit der sie in Europa in Varietés auftrat. In der Spielzeit 1925/26 fand sie ein Engagement am Dreistädtetheater Beuthen-Gleiwitz-Hindenburg. Hier entstand neben anderen Tanzstücken ihr Solo „Der Arbeiter“, eindrucksvoll fotografiert von Sasha Stone: Mit geballten Fäusten steht sie in kampfbereiter Pose in einem Atelier. Eine Aufnahme von Germaine Krull zeigt sie in ihrem ausdrucksstarken Tanz „Révolution“, ebenfalls von 1925. Mit Beginn der neuen Spielzeit 1926/27 war sie wieder in Berlin und wirkte unter anderem in Fritz Holls Inszenierung des „Sommernachtstraums“ von William Shakespeare an der Volksbühne in der Rolle der Anführerin der Elfen mit. Hier lernte sie den Schauspieler, Piscator-Mitarbeiter und Regisseur Leonard Steckel kennen. Sie heirateten 1927 und zogen in die Bonner Straße, nahe der Künstlerkolonie, auch „roter Block“ genannt,3 und damit in Nachbarschaft zu Ernst Busch. Ein Foto zeigt sie 1928 bei einer Filmprobe zu „Vier auf der Landstrasse“, ein Projekt, das jedoch nicht realisiert wurde. 1929 lernte sie Gregor Gog, den Gründer der Bruderschaft der Vagabunden, einer internationalen Bewegung von Obdachlosen, kennen und begann Textbeiträge für seine Zeitschrift „Der Kunde“ zu verfassen. 1930 bis 1932 waren besonders produktive Jahre. Es entstanden zahlreiche gesellschaftskritische Solotänze, worin sie „Menschenschicksale in Bewegungsgestalt“4 darstellte. Yvonne Hardt sieht Mihalys Stärke darin, dass sie es „auf künstlerische Weise schaffte, den Ausdruckstanz ins Erzählerische, Pantomimische zu erweitern“5 und es vermied, das Publikum durch Agitation zu polarisieren. Allerdings sah sie sich keineswegs als Pantomimin. In ihren Tänzen wagte sie sich an Themen, die die Krise der Zeit widerspiegelten, und schlüpfte in die Rolle von Männern wie Frauen, deren Alltagsleben sie verkörperte. Dies war ein Novum auf dem Gebiet des modernen Tanzes jener Zeit, abgesehen von den Tanzgrotesken der Valeska Gert. Mihalys Soli „Mütter“ (1930) und „Vision eines Krieges“ zeigte sie bei einer Tanzmatinee der Arbeitsgemeinschaft junger Tänzer an der Volksbühne und trat in Gruppenstücken auf. Im Schwechten-Saal6 in der Lützowstraße präsentierte sie sich erfolgreich mit einem Soloprogramm unter anderem mit „Blume im Hinterhof“, einem experimentellen Film, den ihr Mann und der befreundete Hermann Rossmann in ihrer Wohnung aufgenommen hatten. Diese Dokumentation konzentriert sich im Wesentlichen auf den Ausdruck ihrer Hände und das Gesicht. Immer wieder fiel in der Presse der Vergleich zu Käthe Kollwitz und ihren ausdrucksstarken sozialkritischen Zeichnungen.
Mit „Judith erschlägt den Holofernes“ schuf Mihaly 1932 eine Choreografie, die nahelegte, dass mit dem Erdolchten Adolf Hitler gemeint war.7 Trotz dieser Anspielung wurde ihr der Titel des „Nationalen Künstlers des Reichs“ angeboten, den sie ablehnte. Bereits seit 1931 war sie Mitglied in der Roten Gewerkschaftsopposition, der Roten Hilfe und dem Freidenkerbund.
Jo Mihalys künstlerische Laufbahn fand mit dem Machtwechsel 1933 ein jähes Ende. Mit ihrem deutsch-jüdischen Mann und der gemeinsamen Tochter Anja (geb. 3.2.1933) siedelte sie nach Zürich, wo ihr Mann am Schauspielhaus ein Engagement fand. Da sie als Emigrantin nicht publizieren durfte, veröffentlicht sie mithilfe des Literaturkritikers Carl Selig unter Pseudonym Artikel und Feuilletons. Zu Auftritten kam es nur noch vereinzelt. Sie engagierte sich weiterhin politisch und leitete von 1934 bis 1938 eine Agitprop-Theatergruppe. Seit 1949 lebte sie in Ascona am Lago Maggiore. Hier traf sie ihre frühere Kollegin Charlotte Bara wieder und trat in gemeinsamen Programmen in deren Teatro San Materno auf. Sie arbeitete weiterhin als Schriftstellerin. Am 29. März 1989 starb Jo Mihaly bei ihrer Tochter Anja in Seeshaupt am Starnberger See.
Brygida Ochaim
1 Siehe https://kuenste-im-exil.de/KIE/Content/DE/Personen/mihaly-jo.html [letzter Zugriff 25.3.2021].
2 Jo Mihaly im Gespräch mit Theo Ott in der Fernsehreihe „Zeugen des Jahrhunderts“, ZDF, 1987, zit. in: Thomas Betz: Das Brot der Freiheit. Die Schriftstellerin Jo Mihaly, Tanzdrama, H.
3 Nr. 64, 2002, S. 19. 3 Die Künstlerkolonie entstand 1927–30 in Berlin-Wilmersdorf als Genossenschaftssiedlung Deutscher Bühnenangehöriger.
4 Fritz Böhme, Deutsche Allgemeine Zeitung, 30.3.1931, zit. in: Tanzdrama, H. 3, Nr. 64, 2002, S. 16.
5 Yvonne Hardt: Vom Krieg, der Pantomime und der Hoffnung. Die Ausdruckstänzerin Jo Mihaly, in: Tanzdrama, H. 3, Nr. 64, 2002 S. 17.
6 1927 wurde der Klindworth-Scharwenka-Saal nach der bekannten Klavierfabrik Schwechten in Schwechten-Saal umbenannt.
7 Geertje Andresen: Jo Mihaly – Einer von Ihnen, siehe www.deutsches- tanzarchiv.de/archiv/nachlaesse-sammlungen/m/jo-mihaly, 10.8-2018 [letzter Zugriff 25.3.2021].
Quelle: Der absolute Tanz, Tänzerinnen der Weimarer Republik, Hrsg.: Julia Wallner; Autor*innen: Carolin Brandl, Gabriele Brandstetter, Yvonne Hardt, Elisabeth Heymer, Wolfgang Müller, Brygida Ochaim, Marlene Scholz, Elke Tesch, Ulrike Traub, Julia Wallner (dt./engl.), Ausstellungskatalog zur gleichnamigen Ausstellung im Georg Kolbe Museum Berlin 2021