Valeska Gert wurde 1892 als Gertrud Valesca Samosch in Berlin geboren. Bereits mit sieben Jahren erhielt sie Tanzunterricht. Der durch den Ausbruch des Ersten Weltkriegs bedingte soziale Wandel wurde auch in ihrer Familie spürbar. Ihr Vater, Inhaber der Blumen- und Federnfabrik Zade & Falk, musste diese verkaufen und als Geschäftsreisender von vorn beginnen. Gert entschloss sich in dieser Zeit, gegen den Willen ihres Vaters, zum Theater zu gehen. Auf Anraten von Arthur Kahane, des damaligen Dramaturgen von Max Reinhardt, wandte sich Gert 1915 an Maria Moissi und nahm bei ihr Schauspielunterricht. 1916 tanzte sie erstmals im Rahmen einer Veranstaltung der Tänzerin Rita Sacchetto im Blüthner-Saal in Berlin, unter anderem zusammen mit Anita Berber. Gert zerstörte die Idylle des Tanzabends durch einen stürmischen Auftritt in orangefarbenen Pluderhosen, aber der Erfolg dieses grotesken Tanzes brachte ihr ein Engagement in die U.T.1-Lichtspiele am Nollendorfplatz ein.2 Sie führte dort mit Sidi Riha, der Frau des Malers Erich Heckel, während der Filmpausen den „Golliwog’s Cake Walk“ von Claude Debussy und ihr Solo „Tanz in Orange“ auf. Otto Falckenberg engagierte Gert anschließend als Schauspielerin für die Spielzeit 1916/17 an den Münchner Kammerspielen. Ein weiteres Jahr verbrachte sie am Deutschen Theater Berlin, wo sie vor allem exzentrische Rollen in Avantgardestücken und in ihren eigenen Soloabenden spielte.
Auf der Suche nach neuen Ausdrucksmöglichkeiten zwischen Schauspiel und Tanz hin- und herschwankend, erfand Gert eine Mischung aus Mimik, Tanz, Laut und Sprache. Sie wagte sich an die Darstellung von Geburt, Liebe, Tod und die Verkörperung gesellschaftlicher Außenseiter. In ihrer Autobiografie schreibt sie: „Weil ich den Bürger nicht liebte, tanzte ich die von ihm Verachteten, Dirnen, Kupplerinnen, Ausgeglitschte und Verkommene.“3 Damit wandte Gert sich gegen die Bürgerlichkeit, deren Kind sie selbst war.
Sie entwickelte sich zum Enfant terrible des Ausdruckstanzes und regte mit ihrer genreübergreifenden Kunst die ihr nachfolgenden Generationen von Tänzer*innen und Theaterregisseur*innen an. Dabei blieb ihr Stil schwer einzuordnen: „Die Zeitungen schrieben ich sei prickelnd wie Champagner, steige zu Kopf wie schwerer Wein, ich sei frisch wie der Wald, giftig wie ein Fliegenpilz [...].“4 1922 wirkte Gert in Bertolt Brechts „Die rote Zibebe“ an den Münchner Kammerspielen mit und stellte in ihrem Solo „Canaille“ eine Prostituierte dar. Brecht interessierte sich, ebenso wie Sergej Eisenstein, für sie, da der Realismus in ihren Darstellungen mit ihrem Begriff von politischem Theater korrespondierte. Gerts Tänze waren kurz und prägnant. Sie tanzte keine Variationen, sondern wollte „die Bewegungen des täglichen Lebens durch Transparentmachen an die Ewigkeit heften“.5 Die Typen und Charaktere, die sie auf der Bühne darstellte, spielte sie auch in zahlreichen Filmrollen.6 Wilhelm Pabst engagierte sie für die Rolle der Frau Greifer in „Die freudlose Gasse“ (1925) und als Mrs. Peachum in der „Dreigroschenoper“ (1931). Suse Byk filmte sogar einige ihre Tänze.
Eine Gastspielreise Gerts durch Russland im Frühjahr 1929 machte weiteres Auftreten in Deutschland schwierig. Die Machtübernahme der Nationalsozialisten setzte ihrer Laufbahn ein Ende und zwang sie als Jüdin in die Emigration. Der Engländer Robin Hay Andersen, den Gert 1936 heiratete, organisierte für sie in London Auftritte. Doch die Situation in Europa blieb für sie schwierig und gefährlich. Im folgenden Jahr emigrierte Gert deshalb in die Vereinigten Staaten, wo sie von vorn beginnen musste. Mit der „Beggar Bar“, die sie im Dezember 1941 in Soho, New York, eröffnete, schuf sie sich eine neue Existenz.
1947 kehrte Gert nach Europa zurück und wurde mit der bitteren Tatsache konfrontiert, dass sie und ihr Bruder die einzigen Überlebenden ihrer Familie waren. 1949 erhielt sie nach längerem Aufenthalt in der Schweiz ein Einreisevisum nach Deutschland. Das von ihr in Berlin ins Leben gerufene Kabarett „Hexenküche“ konnte sie sieben Jahre lang betreiben, wurde dann aber vom Berliner Senat als Striptease-Lokal eingestuft und geschlossen. Gert wurde aufgrund ihrer englischen Staatsangehörigkeit nicht als Opfer des Nationalsozialismus anerkannt, wogegen sie klagte und erneut verlor. Schließlich eröffnete sie 1951 in Kampen auf Sylt ihren berühmt gewordenen „Ziegenstall“. Valeska Gert starb am 18. März 1978 in Kampen.
Brygida Ochaim
1 Akronym für Union Theater.
2 Die biografischen Angaben folgen Frank-Manuel Peter: Valeska Gert. Tänzerin, Schauspielerin, Kabarettistin, Berlin 1985, und Valeska Gert: Ich bin eine Hexe. Kaledoskop meines Lebens, München 1968.
3 Gert 1968 , S. 47.
4 Ebd., S. 56.
5 Ebd., S. 52.
6 Siehe Filmografie in: Peter 1985, S. 125–127.
Quelle: Der absolute Tanz, Tänzerinnen der Weimarer Republik, Hrsg.: Julia Wallner; Autor*innen: Carolin Brandl, Gabriele Brandstetter, Yvonne Hardt, Elisabeth Heymer, Wolfgang Müller, Brygida Ochaim, Marlene Scholz, Elke Tesch, Ulrike Traub, Julia Wallner (dt./engl.), Ausstellungskatalog zur gleichnamigen Ausstellung im Georg Kolbe Museum Berlin 2021